Sudetendeutsche
Sudetendeutsche ist eine alternative Bezeichnung der Deutschböhmen, Deutschmährer und Deutschschlesier, die der Geograph Franz Jesser 1902 für die deutschsprachige Bevölkerung in Böhmen und Mähren prägte. Der Begriff setzte sich rasch durch, nachdem diese durch den Vertrag von Saint-Germain-en-Laye 1919 zu Bürgern der Tschechoslowakei geworden waren und deren Behörden die Verwendung der Begriffe „Deutschböhmen“, „Deutschmährer“ und „Deutschschlesier“ untersagten. Sudetendeutsche wurde nun zum politischen Sammelbegriff für alle im Sprachraum der böhmischen, mährischen und schlesischen Grenzgebiete der Tschechoslowakei lebenden Deutschen.
Seit 1945 verbindet sich mit dem Namen „Sudetendeutsche“ eine weitere politische Konnotation, weil er mit den aus der Tschechoslowakei vertriebenen Deutschen und mit ihren Interessenverbänden Sudetendeutsche Landsmannschaft in Deutschland und Sudetendeutsche Landsmannschaft in Österreich in Verbindung gebracht wird.[1]
Inhaltsverzeichnis
1 Begriffsgeschichte und Begriffskontroverse
2 Geschichte und Gegenwart
2.1 Volksgruppe der Sudetendeutschen
2.2 Bevölkerungsstatistik 1910, 1921 und 1930
3 Siehe auch
4 Literatur
5 Einzelnachweise
Begriffsgeschichte und Begriffskontroverse |
Der Name „Sudetendeutsche“ (im Egerländer Dialekt Suaderer) wurde vereinzelt schon im 19. Jahrhundert benutzt und setzte sich seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts, vor allem ab 1919 (d. h. nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und der Gründung der Tschechoslowakei) als Sammelbegriff für die über drei Millionen Deutschen in den böhmischen Ländern durch und ersetzte die bis dahin übliche Bezeichnung „Deutschböhmen“.
Die Herkunft des Namens ist uneindeutig. Entweder beruht er auf dem Begriff „Sudetští Nĕmci“ (dt. wörtlich ‚Sudeten-Deutsche‘) für den deutschen Bevölkerungsteil, den vor allem die Jungtschechen seit dem 19. Jahrhundert prägten. Oder er leitet sich vom Begriff Sudetenländer ab, der in der österreich-ungarischen Monarchie die Länder der Böhmischen Krone bezeichnete. Beiden Varianten liegt letztendlich der Bezug zum Gebirgszug der Sudeten zugrunde, der sich im Norden Böhmens, Mährens und Sudetenschlesiens auf 330 km Länge hinzieht. Der Begriff Sudetendeutsche umfasst somit auch Bevölkerungsgruppen, die nicht im Bereich des Gebirgszuges der Sudeten lebten, sondern im beinahe gesamten Grenzgebiet Böhmens und Mährens, sowie in den Sprachinseln Olmütz, Wischau, Brünn und Iglau und weiteren Städten.
Die erste Verwendung der Bezeichnung „Sudetendeutsche“ in größerem Stil begann in den zwanziger und dreißiger Jahren. Zum ersten Mal gab es einen einheitlichen Begriff für alle deutschen Bewohner Böhmens und Mährens, was das einheitliche Auftreten der Bevölkerungsgruppe und eine Abgrenzung von der tschechischen Bevölkerung beförderte. Besonders die Gründung der Sudetendeutschen Heimatfront 1933 und die Bezeichnung Reichsgau Sudetenland ab 1938 führten den Begriff zum Durchbruch. Nach der Vertreibung war die unbestrittene Eigen- wie Fremdbezeichnung der deutschen Bevölkerung Böhmens und Mährens in der Bundesrepublik Deutschland „Sudetendeutsche“.
Im politischen Diskurs waren die Sudetendeutschen lange Zeit ein wichtiges Thema. So verkündete der bayerische Ministerpräsident Hans Ehard 1954 auf dem Sudetendeutschen Tag in München die Schirmherrschaft des Freistaats Bayern über die Sudetendeutschen. Er erklärte sie darüber hinaus zu einem „vierten Volksstamm Bayerns neben Altbayern, Schwaben und Franken“. Auch die CSU sah sich als „Anwalt der Sudetendeutschen“.[2] Die konservative Ausrichtung und die politischen Forderungen der Sudetendeutschen Landsmannschaft führten dazu, dass der Begriff „Sudetendeutsche“ in der deutschen Öffentlichkeit häufig mit revanchistischen Forderungen in Verbindung gebracht wird.
Aus diesem Grund lehnen viele Nachkommen von Sudetendeutschen diesen Begriff als Eigenbezeichnung ab oder meiden ihn. Nicht wenige „Sudetendeutsche“ wie etwa Peter Glotz bezeichnen sich lieber als Deutschböhmen oder Deutschmährer, was ihnen politisch neutraler erscheint und was besonders in Österreich neben Schlesiern die seit jeher bevorzugte Bezeichnung ist. Auch die meisten Angehörigen der heutigen deutschen Minderheit in Tschechien bezeichnen sich nicht mehr als Sudetendeutsche.
Geschichte und Gegenwart |
Volksgruppe der Sudetendeutschen |
Die Geschichte der Deutschen in Böhmen, Mähren und Schlesien verlief Jahrhunderte lang nicht unter dem Begriff „Sudetendeutsche“. Die Konstituierung der Sudetendeutschen als Volksgruppe erfolgte in den zwanziger und dreißiger Jahren unter nationalpolitischen Gesichtspunkten. Die deutschen Bewohner der neugegründeten Tschechoslowakischen Republik positionierten sich unterschiedlich zum Staat. Die Aktivisten versuchten, diesen mitzugestalten. Die in den dreißiger Jahren insbesondere unter Konrad Henlein dominant werdenden Negativisten boykottierten und hintertrieben den Staat. Seine dem Nationalsozialismus nahestehende Sudetendeutsche Heimatfront, später Sudetendeutsche Partei, prägte den politischen Diskurs durch Anschlussforderungen an das Deutsche Reich (Appell „Heim ins Reich“).
Infolge des Münchner Abkommens vom 29. September 1938 wurden die deutschsprachigen Gebiete vom Deutschen Reich annektiert und den Sudetendeutschen die Staatsbürgerschaft des Deutschen Reichs zuerkannt. Viele Sozialdemokraten, andere Regimegegner und Juden wurden verhaftet, interniert, misshandelt und ermordet oder flohen davor.[3] Zigtausende tschechische Bewohner der Gebiete sahen sich gezwungen, diese zu verlassen. Die beabsichtigte Trennung von Deutschen und Tschechen scheiterte, denn die neuen Grenzen des Deutschen Reiches umfassten auch Siedlungsgebiete mit tschechischer Bevölkerungsmehrheit, z. B. das Gebiet rund um Hohenstadt oder die Industriestadt Nesselsdorf. Die Gesellschaft der Sudetendeutschen wurde unter den Nationalsozialisten wie das Deutsche Reich gleichgeschaltet und umgebaut. Tschechen wurden unterdrückt und häufig zu Zwangsarbeit gezwungen. Sudetendeutsche beteiligten sich am Holocaust, an der Ermordung von Sinti und Roma und weiteren Verbrechen des NS-Regimes. Auch unter Sudetendeutschen gab es Widerstand gegen den Nationalsozialismus.[4] In den letzten Tagen des Krieges verübten die verbliebenen SS-Einheiten noch zahlreiche Gräueltaten. Unter anderem löste dies am 5. Mai 1945, drei Tage vor Kriegsende, den Prager Aufstand aus, dem Angehörige der Wehrmacht und SS, aber auch zahlreiche deutsche Zivilisten zum Opfer fielen. So schreibt Peter Glotz in seinem Buch Die Vertreibung: „Dies alles erklärt die entfesselte Orgie gegen alles, was nicht tschechisch war, übrigens auch gegen unbestreitbare Antinazis.“[5]
Während und nach der Einnahme durch amerikanische und sowjetische Truppen flüchteten viele Sudetendeutsche und es erfolgten „spontane Vertreibungen“ Deutscher aus dem Gebiet der ehemaligen Tschechoslowakei. Im Mai propagierte Edvard Beneš die Notwendigkeit der Entfernung der Deutschen und stieß damit eine Folge oft blutiger „wilder Vertreibungen“ an, durch die bis zu 800.000 Menschen ihre Heimat verloren. Durch das Beneš-Dekret 108 wurde der gesamte deutsche Besitz konfisziert. Im Jahr 1946 wurden weitere ca. 2.256.000 Menschen offiziell ausgesiedelt. Lediglich einige benötigte Facharbeiter und Gegner und Verfolgte des NS-Regimes durften oder mussten bleiben. Aufnahmeländer waren die spätere Bundesrepublik Deutschland, hier insbesondere Bayern und Hessen, die spätere Deutsche Demokratische Republik, hier besonders Sachsen-Anhalt und Thüringen, und in geringem Umfang auch Österreich. Die Eingliederung dieser neuen großen Bevölkerungsgruppe verlief nicht reibungslos und war eine große Herausforderung für Sudetendeutsche wie Zielländer. Spätestens in den siebziger Jahren gab es allerdings einen Trend zur Assimilation an die Mehrheitsbevölkerung. Hauptsächlich konservative sudetendeutsche Kreise in Deutschland organisierten sich in der Sudetendeutschen Landsmannschaft, die gegen viele Widerstände die Alleinvertretung der Sudetendeutschen beanspruchte und beansprucht. Viele Sudetendeutsche und deren Nachkommen sind allerdings nicht oder in anderen Verbänden organisiert und stehen der Landsmannschaft und ihrer negativen Außenwirkung reserviert gegenüber. Ein kleiner Teil der Sudetendeutschen verblieb in der Tschechoslowakei und versteht sich heute als Deutsche Minderheit in Tschechien.
Das Sudetendeutsche Wörterbuch erfasst die sudetendeutschen Mundarten in Böhmen, Mähren und Mährisch-Schlesien und ist eines der sog. großlandschaftlichen Wörterbücher des Deutschen. Das Wörterbuch wurde 1957 an der Karls-Universität Prag begonnen. Die erste Lieferung erschien 1982, der erste Band 1988. Voraussichtlicher Abschluss ist 2017 mit ca. acht Bänden. Herausgeberin des Wörterbuchs ist das Collegium Carolinum in München.
Bevölkerungsstatistik 1910, 1921 und 1930 |
Umgangssprache (1910) bzw. Volkszugehörigkeit (1921 und 1930) | Volkszählungen in Böhmen, Mähren und Schlesien | ||
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1910 | 1921 | 1930 | |
Tschechen | 6.332.690 | 6.727.408 | 7.264.848 |
Deutsche | 3.489.711 | 2.937.208 | 3.070.938 |
Polen | 158.392 | 73.020 | 80.645 |
Slowaken | – | 15.630 | 44.052 |
Nationaljuden | – | 30.267 | 30.002 |
Russen | 1.717 | 3.321 | 11.174 |
Magyaren | 101 | 6.104 | 10.463 |
Andere | 1.659 | 2.671 | 4.125 |
Staatsfremde | 87.162[6] | – | 158.139 |
(Quelle: Statistisches Jahrbuch der Tschechoslowakischen Republik 1935)
Siehe auch |
Deutsche in der Ersten Tschechoslowakischen Republik – Überblick über das politische Geschehen rund um die Deutschen in den Ländern der Böhmischen Krone und deren Nachfolgestaaten (Deutschösterreich, Tschechoslowakische Republik) von 1848 bis 1938- Demonstration der Sudetendeutschen am 4. März 1919
- Karpatendeutsche
Literatur |
Alfred Bohmann: Das Sudetendeutschtum in Zahlen. Hrsg. vom Sudetendeutschen Rat, München 1959.
Wenzel Jaksch: Europas Weg nach Potsdam. 2. Auflage, Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1959.- K. Erik Franzen: Der vierte Stamm Bayerns. Die Schirmherrschaft über die Sudetendeutschen 1954–1974. (Dissertation) Oldenbourg Wissenschaftsverlag, München 2010, ISBN 978-3-486-59150-7.[7]
Emil Franzel: Sudetendeutsche Geschichte. Kraft, Mannheim 1978, ISBN 3-8083-1141-X.- Emil Franzel: Die Sudetendeutschen. Aufstieg, München 1980, ISBN 3-7612-0157-5.
Walter Fr. Schleser: Die Staatsangehörigkeit deutscher Volkszugehöriger nach deutschem Recht. In: Die deutsche Staatsangehörigkeit, 4. Auflage, Verlag für Standesamtswesen, Frankfurt am Main 1980, ISBN 3-8019-5603-2, S. 75–106.- Jan Berwid-Buquoy: Integration und Separation der Sudetendeutschen in der ČSR 1918–1920. Theorien der Nationalismen. Herbia, České Budějovice 2005, ISBN 80-239-4433-9 / Hibi, Berlin 2005, ISBN 3-924933-08-1 (zugl. Diss. FU Berlin 2004).
Felix Ermacora: Die sudetendeutschen Fragen. Rechtsgutachten. Langen Müller, München 1992, ISBN 3-7844-2412-0.- Horst W. Gömpel, Marlene Gömpel: … angekommen! Vertrieben aus dem Sudetenland, Aufgenommen in Nordhessen, Vereint in der Europäischen Union. (Mit vielen Zeitzeugenberichten, Fotos und Dokumenten.) Preußler, Nürnberg 2014, ISBN 978-3-934679-54-2.
Walter Koschmal, Marek Nekula, Joachim Rogall (Hg.): Deutsche und Tschechen. Geschichte – Kultur – Politik. Mit einem Geleitwort von Václav Havel (= Beck’sche Reihe 1414), Orig.-Ausg., 2., durchges. Auflage, C.H. Beck, München 2003, ISBN 3-406-45954-4. [Die tschech. Texte wurden von Kristina Kallert ins Dt. übers.] (in tschechischer Sprache: Češi a Němci. Dějiny – Kultura – Politika. Slovo úvodem: Václav Havel. Paseka, Prag 2001, ISBN 80-7185-370-4.)
Hans Henning Hahn (Hrsg.): Hundert Jahre sudetendeutsche Geschichte. Eine völkische Bewegung in drei Staaten. Aus der Reihe: Die Deutschen und das östliche Europa. Studien und Quellen. Lang, Frankfurt am Main 2007, ISBN 978-3-631-55372-5.- Rudolf Meixner: Geschichte der Sudetendeutschen. Preußler, Nürnberg 1988, ISBN 3-921332-97-4.
Hermann Raschhofer, Otto Kimminich: Die Sudetenfrage. Ihre völkerrechtliche Entwicklung vom Ersten Weltkrieg bis zur Gegenwart. 2. Auflage, Olzog, München 1988, ISBN 3-7892-8120-4.
Ferdinand Seibt: Deutschland und die Tschechen. Geschichte einer Nachbarschaft in der Mitte Europas. 3. Auflage, Piper, München 1997, ISBN 3-492-11632-9. (Standardwerk)
Erich Später: Kein Frieden mit Tschechien. Die Sudetendeutschen und ihre Landsmannschaft. KVV konkret, Hamburg 2005, ISBN 3-930786-43-5.
Tomáš Staněk: Internierung und Zwangsarbeit. Das Lagersystem in den böhmischen Ländern 1945–1948 (Originaltitel: Tábory v českých zemích 1945–1948, übersetzt von Eliška und Ralph Melville, ergänzt und aktualisiert vom Autor, mit einer Einführung von Andreas R. Hofmann). Oldenbourg / Collegium Carolinum, München 2007, ISBN 978-3-486-56519-5 / ISBN 978-3-944396-29-3 (= Veröffentlichungen des Collegium Carolinum, Band 92).- Tomáš Staněk: Verfolgung 1945. Die Stellung der Deutschen in Böhmen, Mähren und Schlesien (außerhalb der Lager und Gefängnisse). Übersetzt von Otfrid Pustejovsky, bearbeitet und teilweise übersetzt von Walter Reichel, Böhlau, Wien/Köln/Weimar 2002, ISBN 3-205-99065-X (= Buchreihe des Institutes für den Donauraum und Mitteleuropa, Band 8).
- Georg Traska (Hrsg.): Geteilte Erinnerungen. Tschechoslowakei, Nationalsozialismus und die Vertreibung der deutschsprachigen Bevölkerung 1937–1948. Mandelbaum, Wien 2017, ISBN 978-3-85476-535-6.
Einzelnachweise |
↑ Friedrich Prinz: Böhmen und Mähren. Deutsche Geschichte im Osten Europas. Siedler, Berlin 1993, ISBN 3-88680-202-7.
↑ K. Erik Franzen: Der vierte Stamm Bayerns. Die Schirmherrschaft über die Sudetendeutschen 1954–1974 (Dissertation), Oldenbourg Wissenschaftsverlag, München 2010, ISBN 978-3-486-59150-7.
↑ Deutscher Sozialdemokrat in der CSR der Zwischenkriegszeit …, Webseite des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa; Die Deutsche Besetzung der Tschechoslowakei, Förderverein der Stadt Saaz/Žatec e. V. („Die wilde Vertreibung der Deutschen in Nordböhmen 1945“). Abgerufen am 17. September 2013.
↑ Ackermann-Gemeinde: „Vergessene Helden“: Sudetendeutscher Widerstand gegen das NS-Regime – ein tschechisches Forschungsprojekt
↑ Peter Glotz: Die Vertreibung. Böhmen als Lehrstück. München 2003, S. 202.
↑ nicht österreichisch-ungarische Staatsangehörige
↑ Rezension auf sehepunkte.de