Kirchengestühl






Die elfenbeinerne Maximianskathedra in Ravenna


Unter Kirchengestühl versteht man die Sitzmöbel in einer Kirche, sowohl jene für die in der Liturgie mitwirkenden Personen als auch die der Gottesdienstbesucher. Deren Funktion und Bauweise ist durch unterschiedliche kirchliche Anlässe und Traditionen bestimmt. Daneben sind die Sitzmöbel kunsthistorisch und regional unterschiedlich geprägt und widerspiegeln teilweise kirchliche und weltliche Hierarchien.




Inhaltsverzeichnis






  • 1 Geschichte


    • 1.1 Orthodoxer Kirchenbau


    • 1.2 Römisch-katholischer Kirchbau


    • 1.3 Evangelischer Kirchenbau




  • 2 Kirchenbänke


  • 3 Besonderheiten


    • 3.1 Beichtstühle


    • 3.2 Gestühl am Abendmahlstisch


    • 3.3 Betstühle


    • 3.4 Brautstühle


    • 3.5 Hurenstühle




  • 4 Siehe auch


  • 5 Literatur


  • 6 Weblinks


  • 7 Einzelnachweise





Geschichte |




Leviten- und Zelebrantensitz aus dem 13. Jahrhundert im Kloster Kappel




Herrschaftsgestühl, Kirche Rerik




Kirchenvaterstuhl (kleine Loge rechts, mit Dach), St. Jakobus (Rottmersleben)




Laiengestühl von Notre-Dame-en-Saint-Melaine, Rennes


Von der Kathedra des Bischofs und den Sedilien des Klerus abgesehen, gab es bis zum Hochmittelalter keine Bänke und Stühle in den Kirchen. Man wohnte der Liturgie stehend, kniend oder auch gehend bei. Erst im Spätmittelalter – Ende des 14. Jahrhunderts in einigen bayerischen Pfarrkirchen, im 15. Jahrhundert besonders in den Kirchen des Predigerordens – wurden Sitzgelegenheiten für die Gläubigen aufgestellt, die dann bald auch reservierbar waren. Allgemein wurde die Bestuhlung erst im Reformationszeitalter, ausgehend von den evangelischen Territorien, üblich.



Orthodoxer Kirchenbau |


Orthodoxe Kirchenbauten sind traditionell ohne Stühle oder Bänke. Lediglich für Alte und Schwache gibt es häufig eine Sitzreihe an den seitlichen Wänden. Für hochgestellte Persönlichkeiten ist gegebenenfalls ähnlich wie in römisch-katholischen und evangelischen Kirchen standesgemäßes Gestühl vorgesehen. So verfügt beispielsweise die Mariä-Himmelfahrts-Kathedrale, die Krönungskirche der Zaren im Moskauer Kreml, nahe an der Ikonostase über einen Zarenthron von 1551 [1] und einen ebenfalls prächtigen Patriarchenstuhl. Peter der Große dagegen stand vor seinem Herren, allerdings hatte er dazu einen sehr repräsentativen Stehplatz in seiner Petersburger Peter-Paul-Kathedrale. In Griechenland sind heutzutage stapelbare Stühle üblich, in Gemeinden der Diaspora häufig auch Kirchenbänke. Einige Gläubige verzichten bewusst auf das Nutzen der Sitzgelegenheit.



Römisch-katholischer Kirchbau |


Eine Kathedrale verfügt über einen repräsentativen erhöhten Bischofsstuhl (griech. cathedra = Sitz), der sich im Chorraum befindet. Ein besonders kunstvolles Exemplar ist der frühbyzantinische Elfenbeinstuhl des Bischofs Maximian von Ravenna.


Viele Kirchen, soweit sie Kloster- oder Stiftskirchen sind oder waren, weisen im Chorraum ein typischerweise den feierlichen Professen vorbehaltenes Chorgestühl auf, in dem der Konvent gemeinsam das Chorgebet verrichtet. Das Chorgestühl war in der Vergangenheit in aller Regel aus edlerem Material und mit viel größerem künstlerischen und handwerklichen Aufwand gefertigt als das Laiengestühl oder Volksgestühl. Es ist daher auch nicht überraschend, dass es zu Letzterem kaum Literatur gibt.


Ein typischer Kirchenstuhl des Mittelalters ist der Dreisitz, auch Levitenstuhl oder Zelebrantensitz im Altarraum mit Plätzen für den zelebrierenden Priester in der Mitte sowie für Diakon und Subdiakon.



Evangelischer Kirchenbau |


Patronatskirchen verfügten in Altarnähe oder an anderer bevorzugter Stelle über herausgehobene reservierte Sitzplätze für die Familie des Patrons, meist in Form einer Patronatsloge.


Daneben gab es für weitere kirchliche Amts- und Würdenträger besondere Sitzplätze, wie z. B. den Kirchenvaterstuhl für den „Kirchenvater“ oder Kirchvater (lat. vitricus ecclesiae), der dem heutigen Kirchenpfleger (Kirchenvorsteher) entspricht. Auch diese Plätze befanden sich in Altarnähe. Der Pfarrstuhl war der Sitz- und Vorbereitungsplatz des Pfarrers.


Dem ständischen System des Gemeinwesens entsprechend schlossen sich Kirchenstühle der Korporationen an, zunächst des Rates, dann der Gilden und Ämter/Zünfte oder der Schöppen, erst dann vermietete oder Privatplätze an. Das Gestühl war häufig als in sich geschlossenes Kastengestühl gestaltet und in evangelischen Kirchen auf die Kanzel hin ausgerichtet. Besonders reformierte Kirchen oder die gottesdienstlichen Räume evangelischer Freikirchen sind meist als Predigtkirchen konzipiert. Die Vermietungsgebühren von Stuhlplätzen, um die sich eine Stuhlfrau kümmerte, war eine wichtige regelmäßige Einnahme der Kirchengemeinden vor Einführung der Kirchensteuer.




Kirchenbänke |




Kirchenbänke der Gustav-Wasa-Kirche in Stockholm


Das Laiengestühl oder Volksgestühl im Kirchenschiff ist seit der Neuzeit in fast allen römisch-katholischen und evangelischen Kirchen zu finden, in orthodoxen Kirchen fehlt es zumeist.


Die ältesten erhaltenen Kirchenbänke etwa in England stammen aus dem späten 13. Jahrhundert.[2] Während sich Kirchenbänke in römisch-katholischen Kirchen nur langsam durchsetzten, waren sie von Beginn der Reformation an typisch für protestantische Kirchen. Diese Entwicklung hängt mit dem besonderen Gewicht zusammen, das der Protestantismus zum einen der Predigt als Medium der Heilsvermittlung, zum anderen dem persönlichen Glaubenserlebnis zumisst. Im Sitzen konnte sich der Gläubige ganz der Botschaft von der Kanzel oder aber seiner innerlichen Andacht widmen.[3]


Die unterschiedliche Liturgie der Konfessionen schlägt sich auch in der Bauart von Kirchenbänken nieder. So gibt ein Lehrbuch für Möbelschreiner aus dem Jahr 1892 an, dass die Höhe von Bänken für protestantische Kirchen bei etwa einem Meter anzusetzen sei, während sie in römisch-katholischen Kirchen bei nur 80 bis 90 cm liegt, da der römische Ritus ein wiederholtes Niederknien auf dem vor der Bank angebrachten Kniebrett erfordert.[4]


Da Volksgestühl nicht wie Chorgestühl erhöht auf einem Unterbau stand, war es häufig der aus dem Boden aufsteigenden Nässe und damit dem Zerfall stärker ausgesetzt. Zum ältesten vollständig erhaltenen Volksgestühl in Deutschland zählen die spätgotischen Kirchenbänke von Erhart Falckener in der Simultankirche Bechtolsheim (1496) und in der Pfarrkirche St. Valentinus in Kiedrich (1510). Dass diese Gestühle erhalten geblieben sind, dürfte auch der Armut der Gemeinden zuzuschreiben sein, die es verbot, dem verbreiteten Trend der Barockisierung Anfang des siebzehnten Jahrhunderts zu folgen.



Besonderheiten |



Beichtstühle |


Beichtstühle gibt es in nahezu allen katholischen Kirchen. Meist bieten sie eine Sitzgelegenheit für den Priester und eine Kniebank für den Beichtenden.



Gestühl am Abendmahlstisch |




Stühle am Abendmahlstisch einer Baptistengemeinde


Um den Tischcharakter des Abendmahlstisches zu betonen, haben viele Kirchen reformierter und kongregationalistischer Prägung hinter dem Tisch Sitzgelegenheiten aufgestellt. In manchen dieser Kirchen nehmen hier die Abendmahlsteilnehmer in kleinen Gruppen Platz. In anderen Kirchen (zum Beispiel bei den Baptisten) sind die Sitzgelegenheiten für die Gemeindemitglieder bestimmt, die für den Ablauf der Mahlfeier und die Austeilung des Abendmahls Sorge tragen. In der Herrnhuter Brüdergemeine bleibt der mittlere Sitzplatz leer – ein Symbol für die unsichtbare Gegenwart des eigentlichen Tischherrn Jesus Christus.



Betstühle |




Betstuhl des Grafen Eberhard im Bart


Ein Betstuhl ist eine Kniebank.[5] Betstühle sind nicht nur in Kirchen, sondern auch in Klosterzellen, Privatwohnungen, konfessionellen Altersheimen etc. in Gebrauch.



Brautstühle |


Viele Kirchen in Deutschland verfügen über zwei künstlerisch besonders gestaltete Lehnstühle oder Kniebänke, die als Brautstühle bei kirchlichen Trauungen Verwendung finden.



Hurenstühle |


Ein Hurenstuhl[6] oder Hurenschemel[7] war ein spezieller Kirchenstuhl für Frauen, die wegen «Unzucht» bestraft wurden. Noch 1790 existierte ein solcher Schandstuhl in der Kirche von Upfingen.[8] Eine Diskussion von Berechtigung und Nutzen des Hurenstuhls gibt Johann Ferdinand Schlez in seiner Dorfchronik von 1794 wieder.[9]



Siehe auch |



  • Levitenstuhl

  • Dreisitz



Literatur |



  • C. Wels: Pfarrkirche zu Kiedrich und die spätgotischen Dorfkirchen im Rheingau. (PDF-Datei, 5,0 MB) Steinbach 2003, S. 59–62.

  • H. Sobel: Die Kirchenmöbel Erhart Falckeners und seiner Werkstatt. Mainz 1980 (PDF).


  • Gabriela Signori: Umstrittene Stühle: Spätmittelalterliches Kirchengestühl als soziales, politisches und religiöses Kommunikationsmedium, in; Zeitschrift für Historische Forschung 29 (2002), S. 189–213

  • Olivia Mackowiak: Das Kirchengestühl im modernen Kirchenbau, in: Wiener, Jürgen u. Körner, Hans: Liturgie als Bauherr? Moderne Sakralarchitektur und ihre Ausstattung zwischen Funktion und Form, Essen (2010), S. 201–211.



Weblinks |



 Commons: Kirchenbänke – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien


  • Fraunhofer Informationszentrum Raum und Bau


  • heimatverein-rosstal.de Der Kirchenstuhl als Streitobjekt



Einzelnachweise |




  1. h. M. Johenning: Moskau, Peter Rump Verlag, Bielefeld 2010, S. 170


  2. Peter Draper: The Formation of English Gothic: Architecture and Identity. Yale University Press, New Haven 2006. S. 205. vgl. Eric Fernie: The Architecture of Norman England, Oxford University Press 2000. S. 231.


  3. Wolfgang Lück: Das Bild in der Kirche des Wortes: Eine Einführung in die Bilderwelt evangelischer Kirchen. LIT Verlag, Berlin, Hamburg, Münster 2001. S. 17ff.


  4. Theodor Krauth und Franz Sales Meyer: Die gesamte Möbelschreinerei. E. A. Seemann, Leipzig 1892; S. 179 ff.


  5. http://www.zeno.org/Pierer-1857/A/Betstuhl?hl=betstuhl


  6. Kurze Erwähnung durch Christel Köhle-Hezinger in Deutschlandfunk Kultur, Das Evangelische Pfarrhaus - ein Abgesang, 27.06.2009 [1]


  7. W. von Gutzeit, Wörterschatz der Deutschen Sprache Livlands, N. Kymmel, Riga 1864, 1. Band, S. 552


  8. Richard van Dülmen, Kultur und Alltag in der frühen Neuzeit: Dorf und Stadt : 16. - 18. Jahrhundert, C.H. Beck, München 2005, ISBN 3-406-45016-4 Band 2, S. 327/328


  9. Johann Ferdinand Schlez, Geschichte des Dörfleins Traubenheim : fürs Volk und für Volksfreunde geschrieben, Grattenauer, Nürnberg, 2. Auflage 1794, Band 1, S. 42–44









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