Friedensvertrag von Versailles
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Der Friedensvertrag von Versailles (auch Versailler Vertrag, Friede von Versailles) wurde bei der Pariser Friedenskonferenz 1919 im Schloss von Versailles von den Mächten der Triple Entente und ihren Verbündeten bis Mai 1919 ausgehandelt. Mit der Unterzeichnung des Friedensvertrags endete der Erste Weltkrieg auf der völkerrechtlichen Ebene. Sie war zugleich der Gründungsakt des Völkerbunds.
Bereits am 11. November 1918 hatte der Waffenstillstand von Compiègne die Kampfhandlungen des Ersten Weltkriegs beendet, nicht aber den Kriegszustand. Die deutsche Delegation durfte an den Verhandlungen nicht teilnehmen, sondern konnte erst am Schluss durch schriftliche Eingaben wenige Nachbesserungen des Vertragsinhalts erwirken. Der Vertrag konstatierte die alleinige Verantwortung Deutschlands und seiner Verbündeten für den Ausbruch des Weltkriegs und verpflichtete es zu Gebietsabtretungen, Abrüstung und Reparationszahlungen an die Siegermächte. Nach ultimativer Aufforderung unterzeichnete Deutschland am 28. Juni 1919 den Vertrag unter Protest im Spiegelsaal von Versailles. Nach der Ratifizierung und dem Austausch der Urkunden trat er am 10. Januar 1920 in Kraft. Wegen seiner hart erscheinenden Bedingungen und der Art seines Zustandekommens wurde der Vertrag von der Mehrheit der Deutschen als illegitimes und demütigendes Diktat empfunden.
Zu den Unterzeichnern gehörten neben Deutschland die Vereinigten Staaten (USA), das Vereinigte Königreich, Frankreich, Italien, Japan sowie Belgien, Bolivien, Brasilien, Kuba, Ecuador, Griechenland, Guatemala, Haiti, Hedschas, Honduras, Liberia, Nicaragua, Panama, Peru, Polen, Portugal, Rumänien, das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen, Siam, die Tschechoslowakei und Uruguay.
China, das sich seit 1917 mit Deutschland im Krieg befand, unterzeichnete den Vertrag nicht.
Der Kongress der Vereinigten Staaten verweigerte dem Versailler Vertrag 1920 die Ratifikation.[1] Die USA traten dem Völkerbund nicht bei und schlossen 1921 einen Sonderfrieden mit Deutschland, den Berliner Vertrag.
Als weitere Pariser Vorortverträge mit den Verlierern folgten am 10. September 1919 der Vertrag von St. Germain mit Deutschösterreich, am 27. November 1919 der Vertrag von Neuilly-sur-Seine mit Bulgarien, am 4. Juni 1920 der Vertrag von Trianon mit Ungarn sowie am 10. August 1920 der Vertrag von Sèvres mit dem Osmanischen Reich.
Inhaltsverzeichnis
1 Entstehung und Ratifizierung
2 Ausgangsbedingungen
3 Ziele der Siegermächte
3.1 Frankreich
3.2 Vereinigtes Königreich
3.3 Italien
3.4 USA
4 Inhalt
4.1 Kriegsschuldartikel (Artikel 231) als Grundlage für Reparationsforderungen
4.2 Territoriale Bestimmungen
4.2.1 Deutsche Gebietsverluste durch den Versailler Vertrag
4.2.1.1 Sofort abgetretene Gebiete (ohne Volksabstimmung)
4.2.1.2 Nach Volksabstimmungen im Gefolge des Versailler Vertrags abgetreten
4.2.1.3 Nach Volksabstimmungen im Gefolge des Versailler Vertrags beim Deutschen Reich geblieben
4.2.1.4 Dem Völkerbund unterstellt
4.2.1.5 Befristet von den Siegermächten besetzt
4.2.2 Wirkung der Gebietsverluste auf die Staatsangehörigkeit
4.3 Militärische Bestimmungen
4.4 Wirtschaftliche Bestimmungen und Reparationen
4.5 Völkerbund
4.6 Internationale Arbeitsorganisation
4.7 Garantiebestimmungen
5 Folgen
6 Der kleine Vertrag von Versailles
7 Literatur
8 Weblinks
9 Einzelnachweise
Entstehung und Ratifizierung
Der Vertrag war das Ergebnis der Pariser Friedenskonferenz 1919, die im Schloss von Versailles vom 18. Januar 1919 bis zum 21. Januar 1920 tagte. Ort und Eröffnungsdatum waren nicht zufällig gewählt worden: 1871 hatten deutsche Würdenträger während der Belagerung von Paris die Kaiserproklamation im Spiegelsaal von Versailles vorgenommen. Dies verstärkte (neben vielen anderen Faktoren, zum Beispiel den hohen Reparationen Frankreichs an Deutschland) die deutsch-französische Erbfeindschaft und den französischen Revanchismus („Toujours y penser, jamais en parler“).
Vorangegangen war am 8. Januar 1918 das 14-Punkte-Programm von US-Präsident Woodrow Wilson, das aus deutscher Sicht Grundlage für den zunächst auf 36 Tage befristeten Waffenstillstand von Compiègne am 11. November 1918 war.
Vorab tagte ein engerer Ausschuss des Kongresses, der sogenannte Rat der Vier, dem US-Präsident Woodrow Wilson, der französische Ministerpräsident Georges Clemenceau, der britische Premierminister David Lloyd George und der italienische Minister Vittorio Emanuele Orlando angehörten. Der Rat legte die wesentlichen Eckpunkte des Vertrags fest. An den mündlichen Verhandlungen nahmen nur die Siegermächte teil; mit der deutschen Delegation wurden lediglich Memoranden ausgetauscht. Das Ergebnis der Verhandlungen wurde der deutschen Delegation schließlich als Vertragsentwurf am 7. Mai 1919 vorgelegt – nicht zufällig am Jahrestag der Versenkung der RMS Lusitania.[2] Die deutsche Delegation – zu der auch die Professoren Max Weber, Albrecht Mendelssohn Bartholdy, Walther Schücking[3] und Hans Delbrück sowie der General Max Graf Montgelas gehörten – weigerte sich zu unterschreiben und drängte auf Milderung der Bestimmungen, wobei die deutsche Delegation zu den mündlichen Verhandlungen nicht zugelassen wurde; stattdessen wurden Noten ausgetauscht. Zu den wenigen Nachbesserungen in der am 16. Juni von den Alliierten vorgelegten Mantelnote gehörte die Volksabstimmung in Oberschlesien. Die Siegermächte ließen weitere Nachbesserungen nicht zu und verlangten ultimativ die Unterschrift. Andernfalls würden sie ihre Truppen nach Deutschland einrücken lassen. Hierfür hatte der Oberbefehlshaber der alliierten Streitkräfte, Marschall Ferdinand Foch, einen Plan ausgearbeitet: Vom bereits besetzten Rheinland aus sollten die Truppen der Entente entlang des Mains nach Osten vorrücken, um auf kürzestem Wege die tschechische Grenze zu erreichen und so Nord- und Süddeutschland voneinander zu trennen.[4] In Kreisen um den Oberpräsidenten von Ostpreußen, Adolf von Batocki, den Sozialdemokraten August Winnig und General Otto von Below wurden Pläne entwickelt, die Friedensbedingungen rundweg abzulehnen und Westdeutschland den einrückenden Truppen der Siegermächte kampflos zu überlassen. In den preußischen Ostprovinzen, wo die Reichswehr noch verhältnismäßig stark war, sollte dann ein Oststaat als Widerstandszentrum gegen die Entente gegründet werden.[5]
Am 20. Juni 1919 trat Ministerpräsident Philipp Scheidemann zurück. Bereits am 12. Mai 1919 hatte er in der Weimarer Nationalversammlung seine Haltung mit der zum geflügelten Wort gewordenen Frage zum Ausdruck gebracht:
„Welche Hand müsste nicht verdorren, die sich und uns in solche Fesseln legte?“[6]
Unter dem Druck des drohenden Einmarsches und der trotz Waffenstillstand fortbestehenden britischen Seeblockade, die eine dramatische Zuspitzung der Ernährungslage befürchten ließ, votierte die Nationalversammlung am 22. Juni 1919 mit 237 gegen 138 Stimmen für die Annahme des Vertrags.[7] Scheidemanns Parteifreund und Nachfolger Gustav Bauer rief in der Sitzung aus:
„Wir stehen hier aus Pflichtgefühl, in dem Bewußtsein, daß es unsere verdammte Schuldigkeit ist, zu retten zu suchen, was zu retten ist […]. Wenn die Regierung […] unter Vorbehalt unterzeichnet, so betont sie, daß sie der Gewalt weicht, in dem Entschluß, dem unsagbar leidenden deutschen Volke einen neuen Krieg, die Zerreißung seiner nationalen Einheit durch weitere Besetzung deutschen Gebietes, entsetzliche Hungersnot für Frauen und Kinder und unbarmherzige längere Zurückhaltung der Kriegsgefangenen zu ersparen.“[8]
Außenminister Hermann Müller (SPD) und Verkehrsminister Johannes Bell (Zentrum) unterzeichneten daher – unter Protest – am 28. Juni 1919 den Vertrag.
Die Vertreter der USA, der wichtigsten Signatarmacht neben Großbritannien und Frankreich, hatten den Vertrag nach den zwei deutschen Delegierten zwar als Erste unterzeichnet, der amerikanische Kongress ratifizierte den Vertrag jedoch nicht. Am 19. November 1919 und nochmals am 19. März 1920 wurden das Vertragswerk und der Beitritt der Vereinigten Staaten zum Völkerbund abgelehnt.[9] Die USA schlossen daher mit Deutschland den Berliner Vertrag vom 25. August 1921.
Ausgangsbedingungen
Zwei der wichtigsten Mächte aus der Zeit des Kriegsbeginns existierten nicht mehr:
- Als Folge der Oktoberrevolution, die durch die Einschleusung Lenins durch das Deutsche Reich möglich geworden war, war auf dem Boden des Russischen Reiches nun Sowjetrussland entstanden. Die kapitalistischen Staaten fürchteten nun, der Sowjetstaat würde, der Weltrevolution verpflichtet, die innenpolitische Stabilität aller anderen Staaten bedrohen.
- Die österreich-ungarische Donaumonarchie war beim Waffenstillstand zerfallen.
Beide Kriegsparteien hatten sich Nationalitätenprobleme in gegnerischen Staaten zunutze gemacht: Die Mittelmächte hatten auf dem Gebiet des Zarenreiches Regentschaftspolen gegründet und die Gründung Litauens wohlwollend geduldet. Die Alliierten und die slawischen Minderheiten der Donaumonarchie hatten sich gegenseitig unterstützt und waren nun einander verpflichtet.
So war eine generelle Rückkehr zu den Vorkriegsgrenzen unmöglich und die Neuordnung mit jenen Problemen belastet, die die Grenzziehung zwischen Nationalstaaten unausweichlich mit sich bringt.
Die mit Abstand schwersten Kriegsschäden an der zivilen Infrastruktur hatten Frankreich und das von Deutschland überfallene Belgien zu verzeichnen.
Ziele der Siegermächte
Die Ziele Frankreichs, Großbritanniens und der Vereinigten Staaten unterschieden sich beträchtlich; die französischen standen vielfach im Widerspruch zu denen der beiden angelsächsischen Mächte.
Frankreich
Clemenceaus Mitarbeiter André Tardieu fasste die Ziele Frankreichs auf der Versailler Friedenskonferenz folgendermaßen zusammen:
„Sicherheit zu schaffen war die erste Pflicht. Den Wiederaufbau zu organisieren war die zweite.“[10]
Im Deutsch-Französischen Krieg und im Ersten Weltkrieg waren weite Landstriche Frankreichs zum Kriegsschauplatz geworden. Daher war es vorrangiges Ziel Clemenceaus, neben der als selbstverständlich angesehenen Rückgabe Elsass-Lothringens in einem nächsten Krieg mit Deutschland ein erneutes Eindringen deutscher Streitkräfte von vornherein unmöglich zu machen. Zu diesem Zweck strebte er die Rheingrenze und eine möglichst weitgehende Schwächung Deutschlands an. Dies ging einher mit seinem zweiten Ziel: der Entschädigung für die Kriegszerstörungen und der Abdeckung der interalliierten Schulden, die Frankreich vor allem bei den Vereinigten Staaten hatte. Eine vollständige Abdeckung aller Auslagen, die der Krieg gebracht hatte, schien durchaus geeignet, den gefährlichen Nachbarn nachhaltig zu schwächen.[11]
Vereinigtes Königreich
Das Vereinigte Königreich hatte weit weniger unter dem Krieg gelitten als Frankreich, aber sich ebenfalls zur Finanzierung seiner Kriegsbeteiligung hoch bei der amerikanischen Regierung verschuldet. Nicht zuletzt angesichts der Entwicklung in Russland wollte die britische Regierung ein Machtvakuum in Mitteleuropa vermeiden und Deutschland daher im Sinne der klassischen Balance of Power-Strategie nicht zu sehr schwächen. Jedoch strebte die Regierung seiner Majestät eine nachhaltige Schwächung der deutschen Position in Übersee an, nachdem das Deutsche Kaiserreich zuletzt die jahrhundertelange Vormacht zur See des British Empire infrage gestellt hatte. Deutlich wird die britische Position in einem Memorandum vom Lloyd George vom März 1919:
„Man mag Deutschland seiner Kolonien berauben, seine Rüstung auf eine bloße Polizeitruppe und seine Flotte auf die Stärke einer Macht fünften Ranges herabdrücken. Dennoch wird Deutschland zuletzt, wenn es das Gefühl hat, dass es im Frieden von 1919 ungerecht behandelt worden ist, Mittel finden, um seine Überwinder zur Rückerstattung zu zwingen. […] Um Vergütung zu erreichen, mögen unsere Bedingungen streng, sie mögen hart und sogar rücksichtslos sein, aber zugleich können sie so gerecht sein, dass das Land, dem wir sie auferlegen, in seinem Innern fühlt, es habe kein Recht sich zu beklagen. Aber Ungerechtigkeit und Anmaßung, in der Stunde des Triumphs zur Schau getragen, werden niemals vergessen noch vergeben werden. […] Ich kann mir keinen stärkeren Grund für einen künftigen Krieg denken, als dass das deutsche Volk, das sich sicherlich als einer der kraftvollsten und mächtigsten Stämme der Welt erwiesen hat, von einer Zahl kleinerer Staaten umgeben wäre, von denen manche niemals vorher eine standfeste Regierung für sich aufzurichten fähig war, von denen aber jeder große Mengen von Deutschen enthielte, die nach Wiedervereinigung mit ihrem Heimatland begehrten.“[12]
Lloyd Georges finanzielle Forderungen sollten ursprünglich nur die britischen Kriegskosten decken. Die öffentliche Meinung in Großbritannien war durch den Krieg stark gegen Deutschland aufgebracht, was sich nicht zuletzt in den sogenannten Khaki-Wahlen vom 14. Dezember 1918 gezeigt hatte. Unter dem starken innenpolitischen Druck hatte Lloyd George eingewilligt, dass in die Reparationen, die Deutschland auferlegt wurden, auch der Wert sämtlicher Pensionen für Invalide und Kriegshinterbliebene einberechnet wurde, was die Höhe der Reparationsforderungen enorm steigen ließ.[13]
Italien
Das Königreich Italien war sehr zögerlich und erst infolge des Londoner Geheimvertrags von 1915 und der darin in Aussicht gestellten territorialen Gebietsgewinne[14] an der Seite der Triple Entente in den Krieg eingetreten, nutzte aber die Chance, mit dem Sieg die letzten „Irredenta“-Gebiete Trentino und Triest dem italienischen Staatsgebiet anzufügen, darüber hinaus eine leicht zu verteidigende Nordgrenze am Brenner zu gewinnen und eine Kolonie (Dodekanes). Italienische Forderungen gingen folglich im Wesentlichen in die Vertragstexte von Saint-Germain-en-Laye und Sèvres ein.
USA
Amerikanische Kriegsziele waren die Aufhebung sämtlicher Handelsbeschränkungen und die Freiheit der Seeschifffahrt, deren Verletzung durch Deutschlands uneingeschränkten U-Boot-Krieg der Anlass zum Kriegseintritt der USA gewesen war. Darüber hinaus strebte Präsident Wilson eine gerechte Friedensordnung an, die einen weiteren Weltkrieg unmöglich machen sollte. Die Skizze einer solchen Friedensordnung, die auch die anderen amerikanischen Kriegsziele enthielt, hatte er im Januar 1918 mit seinem Vierzehn-Punkte-Programm veröffentlicht. Postuliert wurde darin unter anderem das Verbot jeglicher Geheimdiplomatie, ein Selbstbestimmungsrecht der Völker, eine weitgehende Abrüstung, ein Völkerbund, der Rückzug der Mittelmächte aus allen besetzten Gebieten und die Wiederherstellung Polens, das einen Zugang zum Meer erhalten sollte. Diese Forderungen waren teilweise nicht vereinbar; an der Ostseeküste gab es damals nirgends eine polnische Bevölkerungsmehrheit, weshalb der später im Versailler Vertrag geschaffene polnische Korridor zur Ostsee gegen das Selbstbestimmungsrecht der Völker verstieß. Auf Grundlage dieser Forderungen strebte Wilson einen Verständigungsfrieden ohne Sieger und Besiegte an, rückte aber nach dem deutschen „Diktatfrieden“ von Brest-Litowsk davon ab.
Inhalt
Kriegsschuldartikel (Artikel 231) als Grundlage für Reparationsforderungen
Im Artikel 231 heißt es:
„Die alliierten und assoziierten Regierungen erklären, und Deutschland erkennt an, daß Deutschland und seine Verbündeten als Urheber für alle Verluste und Schäden verantwortlich sind, die die alliierten und assoziierten Regierungen und ihre Staatsangehörigen infolge des Krieges, der ihnen durch den Angriff Deutschlands und seiner Verbündeten aufgezwungen wurde, erlitten haben.“
Der Vertrag wies allein Deutschland und seinen Verbündeten die Rolle des Aggressors im Ersten Weltkriegs zu. Er bedeutete eine anfängliche Isolation Deutschlands, das sich als Sündenbock für die Verfehlungen der anderen europäischen Staaten vor dem Weltkrieg sah.
Die einseitige Schuldzuweisung an Deutschland löste dort die Kriegsschulddebatte aus. Die Unterschriften durch Hermann Müller und Johannes Bell, die durch die Weimarer Nationalversammlung 1919 in ihre Ämter gelangt waren, nährten die vor allem durch Paul von Hindenburg und Ludendorff sowie später von Adolf Hitler propagierte Dolchstoßlegende.
Historiker beurteilen die Ursachen des Ersten Weltkriegs heute differenzierter, als es in dem Vertrag ausgedrückt wird. Der Artikel 231 sollte nicht die historischen Ereignisse bewerten, sondern die für das Deutsche Reich nachteiligen Friedensbedingungen juristisch und moralisch legitimieren. Darüber hinaus sollte das Deutsche Reich finanziell für die Schäden an Land und Menschen haftbar gemacht werden, welche die kaiserlichen Truppen insbesondere in Frankreich angerichtet hatten. Der Vertrag von Versailles legte daher den Grund für die Reparationsforderungen an das Deutsche Reich, deren Höhe allerdings zunächst nicht festgelegt wurde. Die Vertreter des Deutschen Reiches protestierten gegen den Artikel 231 daher nicht bloß aus Gründen der Selbstrechtfertigung, sondern mit dem Ziel, die moralische Basis der gegnerischen Forderungen insgesamt zu unterminieren. Die deutschen Reparationen nach dem Ersten Weltkrieg belasteten den neuen republikanischen Staat; sie waren eine von mehreren Ursachen der Inflation der folgenden Jahre bis 1923.[15]
Territoriale Bestimmungen
Das Reich musste zahlreiche Gebiete abtreten: Nordschleswig an Dänemark, den Großteil der Provinzen Westpreußen und Posen sowie das oberschlesische Kohlerevier und kleinere Grenzgebiete Schlesiens und Ostpreußens an den neuen polnischen Staat, die Zweite Republik. Außerdem fiel das Hultschiner Ländchen an die neu gebildete Tschechoslowakei. Im Westen ging das Gebiet des Reichslandes Elsaß-Lothringen an Frankreich, und Belgien erhielt das Gebiet Eupen-Malmedy mit einer ebenfalls überwiegend deutschsprachigen Bevölkerung. Insgesamt verlor das Reich 13 % seines vorherigen Gebietes und 10 % der Bevölkerung. Darüber hinaus wurde der gesamte reichsdeutsche Kolonialbesitz dem Völkerbund unterstellt, der ihn als Mandatsgebiete an interessierte Siegermächte übergab. Das Deutsche Reich musste die Souveränität Österreichs anerkennen. Der von Deutschösterreich angestrebte Zusammenschluss mit dem Deutschen Reich wurde im Artikel 80 des Versailler Vertrags untersagt. Dieses Anschlussverbot fand sich ebenfalls in Artikel 88 des Vertrags von Saint-Germain.
Deutsche Gebietsverluste durch den Versailler Vertrag
Sofort abgetretene Gebiete (ohne Volksabstimmung)
Elsaß-Lothringen an Frankreich- fast ganz Westpreußen (1466 bis 1772 als Preußen königlichen Anteils zu Polen gehörig) an Polen, jedoch ohne Danzig, das Abstimmungsgebiet Marienwerder, den östlich der Nogat liegenden Teil des Stadt- und Landkreises Elbing, die Kreise Deutsch Krone, Flatow (Restkreis) und Schlochau
Provinz Posen (9. Jahrhundert bis 1793 als historische Landschaft Großpolen polnisch) an Polen, jedoch ohne zwei kleinere deutschsprachige Randgebiete im Westen- die südliche Hälfte des ostpreußischen Kreises Neidenburg
- das Reichthaler Ländchen an Polen
- kleine Grenzstreifen Niederschlesiens an Polen
- das Hultschiner Ländchen an die Tschechoslowakei
Neukamerun, das erst 1911 durch Tausch Teil der deutschen Kolonie Kamerun geworden war, wieder zurück an Frankreich- das Pachtgebiet Kiautschou in China unter japanisches Mandat (diese Entscheidung, die die chinesische Forderung nach Rückgabe der Kolonie ignorierte, löste in China die Bewegung des 4. Mai aus und hatte am 20. Mai 1921 den Abschluss eines Separatfriedens mit Deutschland zur Folge)
- die 1899 von Spanien käuflich erworbenen Inselgruppen der Marianen (spanisch seit 1556) und der Karolinen, beide unter japanisches Mandat
Nach Volksabstimmungen im Gefolge des Versailler Vertrags abgetreten
Nordschleswig stimmte mit einer Dreiviertelmehrheit für Dänemark; der Südteil des Schleswigschen Abstimmungsgebiets verblieb mit einer Mehrheit von 80 Prozent bei Deutschland.- Während der Volksabstimmung am 20. März 1921 war Oberschlesien von alliierten Truppen besetzt, damit nicht deutsche Behörden Druck zulasten der polnischen Option ausüben konnten. 60 Prozent der Stimmberechtigten votierten für den Verbleib beim Deutschen Reich. Nachdem ein gewalttätiger polnischer Aufstand am Widerstand deutscher Freikorps gescheitert war, beschloss der Oberste Rat der Alliierten im Oktober 1921, das Abstimmungsgebiet zu teilen,[16] eine Möglichkeit, die der Versailler Vertrag explizit vorsah. So kam ein Gebiet von etwa einem Drittel der Fläche in Ostoberschlesien, wo es insgesamt eine Stimmenmehrheit für Polen gegeben hatte, am 20. Juni 1922 an Polen. Im abgetretenen Teil war bislang fast ein Viertel der deutschen Steinkohle gefördert worden. Die Abtrennung verbitterte viele Deutsche, weil die Teilung erst nach der Abstimmung beschlossen wurde und dadurch der größere Teil des industriell wertvollen Oberschlesischen Industriegebiets an Polen ging.[17] Durch die räumliche Heterogenität der Stimmenmehrheiten fielen mehrere Orte entgegen der jeweiligen Stimmenmehrheit an Polen. Auch die Künstlichkeit der Grenzziehung in diesem Ballungsraum, teilweise durch Industriebetriebe und Bergwerke, nährte die Verbitterung.
Eupen-Malmedy sowie das bisherige Neutral-Moresnet an Belgien; ursprünglich ohne Abstimmung, eine spätere Abstimmung bestätigte die Zugehörigkeit zu Belgien. Ob die Abstimmung korrekt war oder nicht, wurde von beiden Seiten gegensätzlich dargestellt. Das abgetretene Gebiet umfasste sowohl Gemeinden mit französischsprachigen (Malmedy, Weismes) als auch mit deutschsprachigen Bevölkerungsgruppen (Eupen, Sankt Vith und andere). Letztere bilden heute die Deutschsprachige Gemeinschaft Belgiens.
Nach Volksabstimmungen im Gefolge des Versailler Vertrags beim Deutschen Reich geblieben
- Südschleswig
- der Westteil Oberschlesiens inkl. dem dem Abstimmungsgebiet zugeschlagenen Teil des niederschlesischen Landkreises Namslau (zwei Drittel des Abstimmungsgebiets)
- neun Landkreise Westpreußens östlich und westlich des neuen polnischen „Korridors“ (→ Westpreußen)
- der Südteil Ostpreußens (jedoch ohne Soldau, Kreis Neidenburg)
Dem Völkerbund unterstellt
- Das Saargebiet, dessen Kohleproduktion (siehe Bergbau im Saarland) Frankreich zufiel, wurde dem Völkerbund unterstellt. Nach 15 Jahren sollte eine Abstimmung über die staatliche Zugehörigkeit stattfinden, die am 13. Januar 1935 eine große Mehrheit für Deutschland ergab.
Danzig mit Umgebung wurde zur Freien Stadt unter Kontrolle des Völkerbundes erklärt, in das polnische Zollgebiet eingeschlossen und von Polen außenpolitisch vertreten.- Das Memelland wurde unter Kontrolle des Völkerbunds einem eigenen Staatsrat mit französischem Präfekten unterstellt und am 10. Januar 1923 von Litauen besetzt. 1924 wurde es in der Memelkonvention des Völkerbundes als autonomes Gebiet unter litauische Staatshoheit gestellt.[16]
- die deutschen Kolonien
Befristet von den Siegermächten besetzt
- Das Rheinland; die Räumung sollte bis spätestens 1935 erfolgen. Diese Befristung der Alliierten Rheinlandbesetzung hatten die Angelsachsen den Franzosen, deren Ziel ursprünglich die Abtrennung des Rheinlands vom Reich gewesen war, nur schwer abringen können. Um die Sicherheit Frankreichs vor Deutschland auch ohne einen solchen massiven Verstoß gegen das Selbstbestimmungsrecht der Völker zu gewährleisten, schlossen die USA und Großbritannien mit der Französischen Republik ein Garantieabkommen ab, das jeden erneuten deutschen Angriff auf Frankreich zum Casus belli erklärte. Dieses Garantieabkommen wurde aber wie der gesamte Vertrag vom amerikanischen Kongress nicht ratifiziert, weshalb auch die Briten davon Abstand nahmen.
Wirkung der Gebietsverluste auf die Staatsangehörigkeit
Nach Artikel 91 des Versailler Vertrags erwarben grundsätzlich alle deutschen Reichsangehörigen, die ihren Wohnsitz in den endgültig als Bestandteil des wiedererrichteten polnischen Staates anerkannten Gebieten hatten, von Rechts wegen die polnische Staatsangehörigkeit unter Verlust der deutschen. Zwei Jahre lang nach Inkrafttreten des Vertrags waren die hier wohnhaften über 18 Jahre alten deutschen Reichsangehörigen berechtigt, für die deutsche Staatsangehörigkeit zu optieren. Polen deutscher Reichsangehörigkeit im Alter von über 18 Jahren, die in Deutschland ihren Wohnsitz hatten, waren berechtigt, für die polnische Staatsangehörigkeit zu optieren. Allen Personen, die von dem Optionsrecht Gebrauch machten, stand es frei, innerhalb von zwölf Monaten ihren Wohnsitz in den Staat zu verlegen, für den sie optiert hatten. Sie durften dabei ihr gesamtes bewegliches Gut zollfrei mitnehmen. Es stand ihnen frei, das unbewegliche Gut zu behalten, das sie im Gebiete des anderen Staates besaßen, in dem sie vor der Option wohnten.[18][19]
Diese Bestimmungen erzeugten in den ersten Jahren nach der Transformation in innerstaatliches Recht eine nicht unerhebliche Wanderungsbewegung zwischen dem Deutschen Reich und Polen. Viele Deutsche, die die deutsche Reichs- und Staatsangehörigkeit nicht verlieren wollten und entsprechend optiert hatten, sahen sich gezwungen, ihre angestammte Heimat zu verlassen und auch ihren Grundbesitz zu verkaufen, um sich im Reich wieder eine Existenz aufzubauen. Polen sah die in den Nachkriegswirren vorübergehend Abgewanderten als stillschweigende Optanten an, auch wenn diese Deutschen sich noch nicht für oder gegen die deutsche Staatsangehörigkeit entschieden hatten. Das dadurch erhöhte Angebot auf dem polnischen Grundstücksmarkt führte zu fallenden Preisen der Grundstücke und zu Vermögensverlusten bei den Verkaufenden.[20]
Als Folge des Wiener Abkommens emigrierten zwischen 1924 und dem Sommer 1926 etwa 26.000 Deutsche teils freiwillig, teils erzwungen aus dem neuen polnischen Staat. Das Deutsche Reich war für die Aufnahme dieser Menschen schlecht vorbereitet. Die meisten wurden zunächst in einem Lager bei Schneidemühl aufgefangen.[21]
Militärische Bestimmungen
In der Präambel zum fünften Teil des Vertrages wurde erklärt, dass sich Deutschland, „um den Anfang einer allgemeinen Beschränkung der Rüstungen aller Nationen zu ermöglichen“, zur genauen Befolgung der nachstehenden Bestimmungen über die Land-, See- und Luftstreitkräfte verpflichtet.
- Berufsarmee mit maximal 100.000 Mann einschließlich von höchstens 4.000 Offizieren
- keine allgemeine Wehrpflicht
- Auflösung des Großen Generalstabs
- Beschränkung auf eine einmalige Dienstzeit von zwölf Jahren ohne Wiederverpflichtungsmöglichkeit, maximal 5 % der Mannschaften dürften vorzeitig jährlich ausscheiden (so sollte einer heimlichen Wehrpflicht vorgebeugt werden)[22]
- Verbot von militärischen Vereinen, Militärmissionen und Mobilmachungsmaßnahmen
Marine mit 15.000 Mann, sechs gepanzerten Schiffen, sechs Kreuzern, 12 Zerstörern und 12 Torpedobooten[23]
- keine schweren Waffen wie U-Boote, Panzer, Schlachtschiffe
- Verbot chemischer Kampfstoffe
- Beschränkung der Waffenvorräte (102.000 Gewehre, 40,8 Mio. Gewehrpatronen)
- Verbot des Wiederaufbaus von Luftstreitkräften
Entmilitarisierung des Rheinlands und eines 50 Kilometer breiten Streifens östlich des Rheins[24]
- Verbot des Festungsbaus entlang der deutschen Grenze
- Verbot von Befestigung und Artillerie zwischen Ost- und Nordsee
- Im Weiteren wurden jegliche Maßnahmen verboten, die als zur Vorbereitung eines Krieges geeignet betrachtet wurden. Dies hatte unter anderem Auswirkungen auf das Deutsche Rote Kreuz, das in der Folge seine Ursprungsaufgabe in den Hintergrund stellen musste.
Artikel 177 des Vertrages verlangte die Entwaffnung auch im zivilen Bereich. Der Deutsche Reichstag beschloss in der Folge am 5. August 1920 (damals regierte das Kabinett Fehrenbach) mehrheitlich das Entwaffnungsgesetz.[25][26][27]
Wirtschaftliche Bestimmungen und Reparationen
Das Deutsche Reich wurde zur Wiedergutmachung durch Geld- und Sachleistungen in noch durch die Reparationskommission festzulegender Höhe verpflichtet. Eine erste Rate von 20 Milliarden Goldmark war bis April 1921 zu zahlen.[28] Außerdem wurde eine Verkleinerung der reichsdeutschen Handelsflotte festgeschrieben. Die großen deutschen Schifffahrtswege, namentlich Elbe, Oder, Donau und Memel, wurden für international erklärt.[29] Für fünf Jahre musste das Deutsche Reich den Siegermächten einseitig die Meistbegünstigung gewähren. Im sogenannten Champagnerparagraphen 274 wurde festgelegt, dass Produktbezeichnungen, die ursprünglich Herkunftsbezeichnungen aus den Ländern der Siegermächte waren, nur noch verwendet werden durften, wenn die so bezeichneten Produkte auch tatsächlich aus der genannten Region stammten: Seitdem darf Branntwein in Deutschland nicht mehr als Cognac und Schaumwein nicht mehr als Champagner verkauft werden – Bezeichnungen, die bis dahin in den deutschen Ländern durchaus üblich waren. Luxemburg musste die bislang bestehende Zollunion mit dem Deutschen Reich aufgeben.
Völkerbund
Außerdem sah der Vertrag die Gründung des Völkerbunds vor, eines der erklärten Ziele von Präsident Wilson. Der Völkerbund war Vorläuferorganisation der heutigen Vereinten Nationen, die nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet wurden. Deutschland war bis 1926 kein Mitglied.
Internationale Arbeitsorganisation
Ebenso wurde durch den Versailler Vertrag (Kapitel XIII) die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) ins Leben gerufen, welche bis heute besteht. Auch die Regelungen über diese Organisation sind in allen Pariser Vororteverträgen enthalten und heben Problemstellungen der Arbeitswelt erstmals auf die Stufe des internationalen Rechtssystems. Der Versailler Vertrag geht somit über die Regelungen klassischer Friedensverträge hinaus.
Garantiebestimmungen
Als Garantie für die Durchführung der übrigen Bestimmungen des Vertrags wurde eine alliierte Besetzung des linksrheinischen Gebietes und zusätzlicher Brückenköpfe bei Köln, Koblenz und Mainz vereinbart. Diese sollte zeitlich gestaffelt 5, 10 und 15 Jahre nach dem Ratifizierungsdatum aufgehoben werden (Artikel 428–430).
Folgen
Das Deutsche Reich wurde durch die territorialen Abtretungen in seiner Wirtschaftskraft erheblich geschwächt. Große Teile seiner Schwerindustrie wurden getroffen. Es verlor 80 % seiner Eisenerzvorkommen, 63 % der Zinkerzlager, 28 % seiner Steinkohleförderung und 40 % seiner Hochöfen. Der Verlust Posens und Westpreußens verringerte die landwirtschaftliche Nutzfläche um 15 %, die Getreideernte um 17 % und den Viehbestand um 12 %. Die deutsche Landwirtschaft konnte diesen Verlust zunächst nicht ausgleichen. Deutschlands Bevölkerung verringerte sich um sieben Millionen Menschen (11 %), von denen in den Folgejahren etwa eine Million ins Reich strömte, vor allem aus Elsass-Lothringen und aus den an Polen abgetretenen Gebieten. Durch den Verlust von 90 % der Handelsflotte und des gesamten Auslandsvermögens wurde der deutsche Außenhandel stark beeinträchtigt.
Da das Deutsche Reich seine Armee nach Art. 159 ff. Versailler Vertrag auf eine Stärke von 115.000 Soldaten (100.000 Heer und 15.000 Marine) verkleinern musste, war es nicht in der Lage, eine etwaige alliierte Invasion militärisch zu verhindern. Bereits 1921 drohten die Siegerstaaten im Londoner Ultimatum mit einer Besetzung des Ruhrgebiets; 1923 wurde es dann von französisch-belgischen Truppen tatsächlich besetzt (→ Ruhrbesetzung).
Verschiedene Historiker bezeichneten es als ein Grundproblem des Versailler Vertrages, dass er zwei Ziele gleichzeitig zu erreichen versuchte: zum einen die von Wilson vertretenen Ideale der Selbstbestimmung der Völker und der territorialen Übereinstimmung zwischen Volk und Staat, zum anderen die Absichten der Siegermächte, insbesondere Frankreichs, das Deutsche Reich entscheidend zu schwächen.[30]
Sebastian Haffner schrieb nach dem Zweiten Weltkrieg, das Deutsche Reich als immer noch stärkste und geographisch in der Mitte beheimatete, also für die Stabilität des Kontinents unentbehrliche europäische Macht sei „weder dauerhaft entmachtet noch dauerhaft integriert“ worden.
Der Vertrag von Versailles – gelegentlich „Karthagischer Friede“ genannt – war für Deutschland zu hart, als dass ein als politische Einheit und wirtschaftliche Großmacht bestehen gebliebenes Deutsches Reich ihn dauerhaft akzeptieren würde. Gleichwohl ließ er es mächtig genug, dass eine deutsche Regierung weniger als 20 Jahre später Revanchegedanken in Politik umsetzen konnte, womit sie Europa in die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs stürzte. Marschall Foch äußerte zur Zeit des Vertragsabschlusses: „Das ist kein Frieden. Das ist ein zwanzigjähriger Waffenstillstand.“ – Foch war für eine Zerschlagung des Deutschen Reiches eingetreten.
John Maynard Keynes, der Vertreter des Schatzamts der britischen Delegation bei den Vertragsverhandlungen, trat noch vor Abschluss der Verhandlungen unter Protest gegen die Vertragsbedingungen, die Deutschland auferlegt werden sollten, von seinem Posten in der Delegation zurück. Die wirtschaftlichen Folgen des Friedensvertrages würden sowohl die internationalen Wirtschaftsbeziehungen destabilisieren als auch größeren sozialen Sprengstoff für Deutschland mit sich führen.
Die Friedensbedingungen wurden in Deutschland als überraschend und als extrem hart empfunden. Lange hatte die deutsche Öffentlichkeit geglaubt, auf der Grundlage der wilsonschen Vierzehn Punkte einen milden Frieden erreichen zu können, der im Wesentlichen den Status quo ante wiederherstellen würde. Der Kulturphilosoph Ernst Troeltsch schrieb, Deutschland habe sich im „Traumland der Waffenstillstandsperiode“ befunden, aus dem es mit der Veröffentlichung der Friedensbedingungen brutal geweckt worden sei.[31] Hinzu kam die Tatsache, dass die Siegermächte das Deutsche Reich von den Verhandlungen ausgeschlossen und ihm nur am Schluss schriftliche Eingaben gestattet hatten: Das Schlagwort vom „Versailler Diktat“ machte die Runde. Diese beiden Faktoren trugen dazu bei, dass der Widerstand der Reichsregierung gegen den Vertrag, wie der Historiker Hans-Ulrich Wehler schreibt, „von einem nahezu lückenlosen Konsens im ganzen Land“ getragen wurde.[32] In den folgenden Jahren war der Revisionismus dieses Vertrages erklärtes Ziel der deutschen Außenpolitik: Weder die Legitimität des Friedens[33] noch die Tatsache, dass Deutschland den Krieg militärisch verloren hatte (→ Dolchstoßlegende), wurden akzeptiert. Auf unterschiedlichen Wegen versuchten alle Regierungen der Weimarer Republik, die „Fesseln von Versailles abzuschütteln“, weshalb man von einem regelrechten „Weimarer Revisionssyndrom“ sprechen kann. Neben der Art seines Zustandekommens und den Inhalten des Vertrages – insbesondere auch die Gebietsabtretungen mit deutschen Bevölkerungsgruppen – beschädigte dieses Revisionssyndrom nachhaltig das Ansehen der demokratischen Westmächte und das Vertrauen in die neue Demokratie in Deutschland.[34] Manche Historiker sehen in dem Vertrag eine wichtige Ursache für den Aufstieg des Nationalsozialismus. So äußerte Theodor Heuss, damals liberaler Reichstagsabgeordneter, 1932 in seiner Schrift Hitlers Weg: „Der Ausgangspunkt der nationalsozialistischen Bewegung ist nicht München, sondern Versailles.“[35][36]
Auf die hohen Reparationsforderungen und die Industriedemontagen im Ruhrgebiet versuchte die deutsche Reichsregierung mit einem Generalstreik zu reagieren, der mit ständig nachgedrucktem Geld unterstützt werden sollte. Das heizte die Inflation zu einer Hyperinflation an, die große Teile der Bevölkerung in Not und Elend stürzte. Sie war vor allem dadurch zustande gekommen, dass den Kriegsanleihen, mit denen das Kaiserreich vorher den Krieg finanziert hatte, durch die militärische Niederlage keine Sachwerte gegenüberstanden. Während und nach der Inflation geriet das Reich in eine zunehmende Abhängigkeit von ausländischen Krediten, besonders US-amerikanischen. Die von den USA ausgehende Weltwirtschaftskrise traf das Deutsche Reich extrem hart, da seine Volkswirtschaft stärker als andere mit der US-Wirtschaft verwoben war.
Die durch den Versailler Vertrag begründeten bedeutsamen wirtschaftlichen Folgen und die außenpolitische Isolation des Deutschen Reichs versuchte Walther Rathenau im Vertrag von Rapallo zu entschärfen. Darin wurde das Verhältnis zur Sowjetunion normalisiert und auf gegenseitige Ansprüche verzichtet.
Hitler konnte in den ersten Jahren seiner Regierungszeit durch die Beseitigung der letzten Zwänge des Versailler Vertrags, unter anderem durch die militärische Wiederaufrüstung und Wiederbesetzung des Rheinlandes, großes innenpolitisches Prestige ernten. Die USA zogen sich alsbald von der europäischen Politik zurück; Frankreich und Großbritannien entschieden sich für eine Politik des Appeasement.
Der kleine Vertrag von Versailles
Neben dem hier erläuterten Friedensvertrag von Versailles existiert noch ein weiterer weniger bekannter Pariser Vorortvertrag mit gleichem Namen. So wird der polnische Minderheitenvertrag vom 28. Juni 1919 als „der kleine Vertrag von Versailles“ bezeichnet. Dabei handelt es sich um den ersten völkerrechtlichen Vertrag mit konkret ausgearbeiteten Schutzrechtbestimmungen für nationale Minderheiten.
Literatur
- Manfred F. Boemeke, Gerald D. Feldman, Elisabeth Glaser (Hrsg.): The Treaty of Versailles. A Reassessment after 75 Years. Cambridge University Press, New York 1998, ISBN 0-521-62132-1.
Eckart Conze: Die große Illusion. Versailles 1919 und die Neuordnung der Welt. Siedler Verlag, München 2018, ISBN 978-3827500557.- Wolfgang Elz: Versailles und Weimar. In: APuZ. 50–51/2008, S. 31–38.
Sebastian Haffner, Gregory Bateson: Der Vertrag von Versailles. Ullstein Verlag, Berlin 1988, ISBN 3-548-33090-8 (enthält den vollständigen Text des Versailler Vertrages).
- Bruce Kent: The Spoils of War. The Politics, Economics and Diplomacy of Reparations 1918–1932. Clarendon, Oxford 1989, ISBN 0-19-822738-8.
Eberhard Kolb: Der Frieden von Versailles. Verlag C.H. Beck, München 2005, ISBN 3-406-50875-8 (knapper Überblick).
Hans-Christof Kraus: Versailles und die Folgen. Außenpolitik zwischen Revisionismus und Verständigung 1919–1933. be.bra Verlag, Berlin 2013, ISBN 978-3-89809-404-7.
Gerd Krumeich: Die unbewältigte Niederlage. Das Trauma des Ersten Weltkriegs und die Weimarer Republik. Verlag Herder, Freiburg im Breisgau 2018, ISBN 978-3451399701.- Gerd Krumeich (Hrsg.): Versailles 1919. Ziele – Wirkung – Wahrnehmung. Klartext Verlag, Essen 2001, ISBN 3-88474-945-5.
Peter Krüger: Versailles – Deutsche Außenpolitik zwischen Revisionismus und Friedenssicherung. Deutscher Taschenbuch-Verlag, München 1986, ISBN 3-423-04513-2.
Jörn Leonhard: Der überforderte Frieden. Versailles und die Welt 1918-1923. Verlag C.H. Beck, München 2018, ISBN 978-3406725067.
Margaret MacMillan: Die Friedensmacher. Wie der Versailler Vertrag die Welt veränderte. Propyläen, Berlin 2015, ISBN 978-3-549-07459-6.
Weblinks
Commons: Friedensvertrag von Versailles – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien
- Seite zum Vertrag von Versailles beim LeMO mit vielen Grafiken
- Vollständiger Vertragstext
Informationen zum Versailler Vertrag speziell für Schulen auf dem Bildungsserver SwissEduc
SPIEGEL special 1/2004: Der Unfriede von Versailles
Ende und Anfang einer Katastrophe – Der Versailler Vertrag – Audiofeature auf Bayern2Radio, radioWissen
Einzelnachweise
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↑ Martin Schramm: Das Deutschlandbild in der britischen Presse 1912–1919. Berlin 2007, S. 509.
↑ Vgl. Ulf Morgenstern: „Ach das ist schön hier!“ Privatbriefe Walter Schückings aus der Versailler Friedensdelegation 1919. In: Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung 30 (2018), S. 299–335.
↑ Henning Köhler: Novemberrevolution und Frankreich. Die französische Deutschland-Politik 1918–1919. Droste Verlag, Düsseldorf 1980, S. 310 f.
↑ Hagen Schulze: Der Oststaat-Plan 1919. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte. 18 (1970), S. 123–163 (PDF).
↑ Christian Gellinek: Philipp Scheidemann. Gedächtnis und Erinnerung. Waxmann, Münster 2006, ISBN 3-8309-1695-7, S. 44.
↑ Michael Kotulla: Deutsche Verfassungsgeschichte. Vom Alten Reich bis Weimar (1495–1934). Springer, Berlin 2008, S. 584.
↑ Justus H. Ulbricht (Hrsg.): Weimar 1919. Chancen einer Republik. Böhlau, Köln/ Weimar 2009, ISBN 978-3-412-20359-7, S. 86.
↑ Stephan G. Bierling: Geschichte der amerikanischen Außenpolitik. Von 1917 bis zur Gegenwart. Beck, München 2003, ISBN 3-406-49428-5, S. 75.
↑ André Tardieu: La Paix. Paris 1921, S. 308.
↑ Henning Köhler: Novemberrevolution und Frankreich. Die französische Deutschland-Politik 1918–1919. Droste Verlag, Düsseldorf 1980, S. 26–31.
↑ Klaus Schwabe (Hrsg.): Quellen zum Friedensschluß von Versailles. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1997, ISBN 3-534-04822-9, S. 156 f.
↑ Bruce Kent: The Spoils of War. The Politics, Economics, and Diplomacy of Reparations 1918–1932. Clarendon, Oxford 1989, S. 36–40.
↑ Georg Grote, Hannes Obermair: A Land on the Threshold. South Tyrolean Transformations, 1915–2015. Peter Lang, Oxford-Bern-New York et al. 2017, ISBN 978-3-0343-2240-9, S. XVII–XX.
↑ Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Band 4: Vom Beginn des Ersten Weltkrieges bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten 1914–1949. 2., durchges. Auflage. C.H. Beck, München 2003, S. 245.
↑ ab Werner Conze: Die Weimarer Republik. In: Peter Rassow (Hrsg.): Deutsche Geschichte im Überblick. Stuttgart 1973, ISBN 3-476-00258-6, S. 645.
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↑ Helmut Lippelt: Zur deutschen Politik gegenüber Polen 1925/26. In: Hans Rothfeld, Theodor Eschenburg (Hrsg.): Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte. 19. Jahrgang 1971 / 4. Heft / Oktober, Institut für Zeitgeschichte, Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart, S. 331 (PDF; 6 MB).
↑ Vgl. das Deutsch-polnische Abkommen über Staatsangehörigkeits- und Optionsfragen vom 30. August 1924 – Wiener-Abkommen – (RGBl. 1925 II, S. 33 f.) und den Minderheitenschutzvertrag zwischen den alliierten und assoziierten Hauptmächten und Polen vom 28. Juni 1919 (Text auf Clio-online / Themenportal Europäische Geschichte, abgerufen am 8. September 2012).
↑ Helmut Lippelt: Zur deutschen Politik gegenüber Polen 1925/26. In: Hans Rothfeld, Theodor Eschenburg (Hrsg.): Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte. 19. Jahrgang 1971 / 4. Heft / Oktober, Institut für Zeitgeschichte, Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart, S. 326 (PDF; 6 MB).
↑ Jens Boysen: Die polnischen Optanten. Ein Beispiel für den Zusammenhang von Krieg und völkerrechtlicher Neuordnung. In: Bruno Thoß, Hans-Erich Volkmann (Hrsg.): Erster Weltkrieg – Zweiter Weltkrieg. Ein Vergleich. Krieg, Kriegserlebnis, Kriegserfahrung in Deutschland. Schöningh, Paderborn/Wien 2002, ISBN 3-506-79161-3, S. 593–614, hier: S. 593, 604–607.
↑ Friedensvertrag von Versailles, Teil V: Bestimmungen über Landheer, Seemacht und Luftfahrt, Kapitel III: Heeresergänzung und militärische Ausbildung, Artikel 173 und 174
↑ Dan van der Vat: Schlachtfeld Atlantik. ISBN 3-453-04230-1, S. 82.
↑ Artikel 42 bis 42
↑ Deutsches Historisches Museum: 1920, abgerufen am 4. August 2009.
↑ Reichs-Entwaffnungsgesetz vom 7. August 1920.
↑ bundesarchiv.de
↑ Bruce Kent: The Spoils of War. The Politics, Economics and Diplomacy of Reparations 1918–1932. Clarendon, Oxford 1989, S. 72 f.
↑ Friedensvertrag von Versailles. 28. Juni 1919. Kapitel III. Artikel 331.
↑ Christian Hillgruber: Woran scheiterte der Friedensvertrag von Versailles? BRJ 2015, S. 6–12
↑ Zitiert nach Henning Köhler: Deutschland auf dem Weg zu sich selbst. Eine Jahrhundertgeschichte. Hohenheim-Verlag, Stuttgart 2002, S. 161.
↑ Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Band 4, C.H. Beck, München 2003, S. 408.
↑ Oskar Stillich: Der Friedensvertrag von Versailles im Spiegel deutscher Kriegsziele. Verlag O. Wachsen, Berlin 1921 (eine soziologische Betrachtung über: Methoden seiner Bekämpfung, seine Gegner, seinen rechtlichen Charakter, seine materielle Erfüllbarkeit, seinen Einfluss auf die Neugestaltung der Welt).
↑ Michael Salewski: Das Weimarer Revisionssyndrom. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. 2 (1980), S. 14–25.
↑ Vater ist schuld. In: Der Spiegel. Nr. 21/1959 (online [abgerufen am 23. Juni 2014]).
↑ Der Alttestamentler Otto Procksch sagte am 18. Januar 1924 an der Universität Greifswald in einer Rede („König und Prophet in Israel“) etwas für die damalige Stimmung in der Professorenschaft wohl Typisches: Der Name Versailles, über dem einst eine Kaiserkrone schwebte, lässt heute das Blut gerinnen. Denn aus Versailles haben wir nur die Narrenkappe heimgebracht; und wir sind heerlos, wehrlos, ehrlos. Wohl hat Frankreich vor einem Jahr selbst den Vertrag gebrochen, aber wir erfüllen, erfüllen, erfüllen. Wenn deutsche Art und christlicher Glaube sich verbinden, dann sind wir gerettet, dann wollen wir arbeiten mit unseren Händen und des Tages warten, bis der deutsche Held komme, er komme als Prophet oder König. (Greifswalder Universitätsreden, Band 10, S. 22 f.)
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